Der Tanz - La Danse
Der Tanz ist weiblich. Nicht im Sinne des russischen Tänzers und Choreografen George Balanchine, dessen Satz „Ballet is a woman“in seiner Wahlheimat USA besondere Bedeutung bekam, weil er in regelmäßiger Folge seine Ballerinen heiratete. Der Tanz ist weiblich, weil gesellschaftliche Kräfte noch immer den tanzenden Mann als unmännlich spiegeln und sanktionieren, der Frau hingegen viel eher sowohl das professionelle Ausüben als auch das alltägliche Tanzen zugestehen. Diesem quasi von außen nach innen wirkenden Einfluss steht jener in umgekehrter Weise wirkender gegenüber: Im Tanz können Gefühle ausgelebt werden, die ansonsten ihren Platz nur mit Mühe im Alltag behaupten können: Sich spüren, sich öffnen, Tanz als Ventil nutzen, dem Unbewusstes entweichen darf – auch diese Freiräume werden im Allgemeinen ohne Widerspruch den Frauen zugestanden; beim Mann sind sie anerkannte Diskussionsgrundlage.
Der amerikanische Tanzpionier Ted Shawn gründete in der Anfangszeit des Modernen Tanzes seine „All Male Dancers Group“ mit der klaren Zielsetzung, die Vorurteile männlichen Tänzern gegenüber abzubauen. Was damals nahezu revolutionär war, scheint heute nicht weniger notwendig. Denn, wenn der Brite Lloyd Newson mit seinem „DV8 Physical Theatre“ auftritt, das (eine Weile) ausschließlich aus Männern bestand, wird mindestens ebenso viel über die sexuelle Ausrichtung der Darsteller gesprochen wie über die Leistung der exzellenten Tänzer. Bei einer reinen Frauencompany gäbe es nur halb so viel Gesprächsstoff.
José Limon, der nordamerikanische Tänzer und Choreograf mit mexikanischen Wurzeln, wagte einmal die provokante Vision, der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika könne doch ebenso gut auf den Stufen des Weißen Hauses ein paar Tanzschritte zeigen, anstatt sich ausschließlich mit Worten an sein Volk zu wenden. Ob er weitergehend spekulierte, diese Geste würde nicht nur ein anderes Ansehen beim Volk, sondern letzten Endes auch eine bessere Politik zur Folge haben, ist nicht überliefert. Sicher ist: Nicht nur Präsidenten hindert die Angst, sich mit öffentlichem Solotanz möglicherweise lächerlich zu machen, oder – noch schlimmer nicht männlich und entschlossen genug zu erscheinen. Denn der Tanz ist weiblich. Man stelle sich einen deutschen Kanzler oder seinen Kandidaten tanzend in politischer Mission vor: Unmöglich, das Höchste der Tanzgefühle sind wenige Runden auf dem Bundespresseball, und das auch nur an die jeweilige Partnerin geheftet (der Tanz ist weiblich). Als der Mann tanzte, war er noch König; sowohl Ludwig XIII. als auch der sonnige Ludwig XIV. waren sich im barocken Frankreich für kein Vergnügen dieser Art zu schade – und sie waren tanzende Laien. Erst mit dem Modernen Tanz verbreitete sich zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts die Idee, dass Tanzen zum Leben eines jeden gehören solle, wie Essen, Schlafen und Arbeiten.
Als Lola Rogge im Jahr 1928 über ihren Beruf schriftlich nachdenkt, sind die Begriffe „Bewegungsfreude“ und „künstlerische Arbeit“ die häufigsten in ihrem Aufsatz. Die Bewegungsfreude kann da sein oder im Unterricht geweckt werden. Aber eine Bereitschaft zur disziplinierten, künstlerischen Arbeit war unbedingte Voraussetzung. Zum einen, weil der Moderne Tanz sich damals in Abgrenzung gegen die anderen Künste und das Klassische Ballett erst noch als etwas Ernst-zu-nehmendes durchsetzen musste. Zum anderen aber sicher auch, weil man selbst aktiv werden muss, tanzen lassen geht eben nicht, man muss sich schon in jeder Beziehung in Bewegung setzen. Eine solche ganzheitliche Herausforderung anzunehmen, ist vielen Menschen inzwischen fremd geworden, der heutigen ach so fröhlichen Fun-Gesellschaft ist tatsächlich die Bewegungsfreude im oben genannten, anspruchsvollen Sinn abhanden gekommen.
Aber warum ist der Tanz als selbstverständlicher Bestandteil des Alltags verschwunden? Wenn schon zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts die einseitige körperliche Belastung der neuen Berufe die Menschen zu Massen in die Tanz- und Gymnastikkurse trieb, ist es auf den ersten Blick umso erstaunlicher, dass Berufstätige heutzutage, die vereinzelt vor zweidimensionalen Bildschirmwelten arbeiten, dem Bedürfnis nach ausgleichender, harmonisierender Bewegung deutlich seltener nachgeben. Wenn von einer Massenbewegung die Rede sein kann, dann höchstens als Run auf die Fitness-Angebote. Dieser einseitig den Körper fordernde Bereich findet eine deutlich größere gesellschaftliche Akzeptanz als Körperarbeit mit Selbsterfahrungs- oder künstlerischen Aspekten. Die auf zivilisatorischen Wegen verloren gegangene Einheit von Körper, Seele und Geist kann so sicher nicht wiedergewonnen werden, und das, was früher Bewegungsfreude hieß, hat mit Fun so gut wie nichts mehr zu tun. Eigentlich spricht (außer der persönlichen Haltung) nichts dagegen, Tanzen gezielt in den Tagesablauf einzubauen, ähnlich dem Zähneputzen. Doch dieser Laban’sche Faden aus den 1920er Jahren, als Frauen und Männer sich inner- und äußerlich bewegen ließen, wurde bisher nicht wieder aufgenommen.
Frauen beherrschen das Bild im Tanzunterricht. Auch für die Ausbildung im tanzpädagogischen Fach sind Bewerberinnen ganz klar in der Überzahl. Es ist vielleicht kein Zufall, dass in den romanischen Ländern seit Jahrhunderten klar ist: La danse und la danza. Vor rund hundert Jahren war die Tänzerin Isadora Duncon fest davon überzeugt, dass nur die Frau die Revolution im Tanz und ebenso die wichtigen gesellschaftlichen Erneuerungen herbeiführen könne. Vielleicht bringt ja das 21. Jahrhundert einen Isidor hervor, der den Tanz als selbstverständlichen Anteil des alltäglichen Lebens neu entdeckt.
Dagmar Ellen Fischer
(K)ein Interview
Persönliche Gedanken der Schulleiterin Christiane Meyer-Rogge-Turner. Auszüge aus einem Gespräch, zusammengestellt von Dagmar Ellen Fischer.
Ohne Laban und Lola kein Laientanz..?
„Ob man das so sagen darf – es gibt auch andere Richtungen im Modernen Tanz, die sich dem alltäglich tanzenden Menschen gewidmet haben. In Prag lebt noch immer eine Duncan-Tradition fort. Auch von Dalcroze gingen entscheidende Impulse aus. Es geht auch ohne Laban, aber es geht nicht ohne Modernen Tanz. Natürlich darf man die Folklorebewegung im Zusammenhang mit Laientanz nicht vergessen. Jedoch, dieses Kreative, diese Befreiung, die enthält der Moderne Tanz per se, sozusagen. Dass man sich selbst vergisst, diese Erlösung vom Ich, die eigene Persönlichkeit für Momente ganz zu befreien, das ist eine Sache, die wirklich mit dem Modernen Tanz zusammenhängt, glaube ich. Das erreichen wir nun nicht in jeder Laientanzstunde, aber die Kraft ist eben innewohnend, sie schlummert immer, und man kann sie wecken. Und es lässt einen ja auch nicht mehr los, wenn man einmal entdeckt hat, dass es diesen Schatz gibt.“
Ein Schatz für Kinder und Erwachsene
„Mein Ausgangspunkt ist, dass man über Bewegungsqualitäten und Musikalität das Niveau entwickeln kann: Den individuellen Körper berücksichtigend, und den Körper eben nicht zu einem bestimmten Tänzerkörper formen wollend, sondern die Grenzen des jeweiligen Kindes akzeptierend. Gerade dadurch, dass wir auf Bewegungsqualität mehr Wert legen, leiden wir auch nicht darunter, dass diese Körper anders geformt sind als jene von kleinen Bühnentänzerinnen. Ob es nun ein dickes oder kleines oder langes, schlackergliedriges Kind ist, man kann es sehr wohl dazu bringen, sich langsam, schnell, gerissen, zitternd oder schwingend zu bewegen. Im Idealfall nehmen die Kinder sich aneinander ein Beispiel. Ihr Schatz ist allerdings leichter zu heben als der von Erwachsenen, weil die Kinder noch nicht so stark unter Druck stehen. Ich fühle mich von der Auffassung des französischen Hörforschers und Therapeuten Thomatis bestätigt, der behauptet, man könne einem Menschen gar nichts Besseres antun, als ihn tanzen zu lassen, weil er zu gleicher Zeit hört und sich bewegt. Die Verbindung von Hören und Tanzen schult nicht nur die Motorik und den Intellekt, sondern auch die Vorstellungskraft, die Fantasie; andererseits wird durch die tänzerische Eroberung der Musik die Wahrnehmung verfeinert. So kommt es auch in einer Laientanzstunde für Erwachsene nicht darauf an, dass ein Bein perfekt gestreckt ist, sondern dass der Tanzende die Streckung erlebt und wahrnimmt.“
Instrumente und andere Körper
Auf musikalischem Gebiet hat Orff sich um die Laien bemüht, hat Kompositionen und Methoden geschaffen, die zu dem bekannten Schulwerk führten. Im Tanz gibt es nichts Vergleichbares. (RAD, Royal Academy of Dancing, widmet sich ausschließlich dem Klassischen Tanz; DaCi, Dance und the Child International, arbeitet im Kindertanz kulturübergreifend). Ich würde mir wünschen, dass der Laientanz ähnlich erforscht und beschrieben werden würde. Bei Orff lernt man zunächst die musikalischen Grundlagen, um sich dann später vielleicht für Geige oder Gesang zu entscheiden. Das Vorgehen im Tanz ist ähnlich, doch anders als im Ballett, wo man sagen würde: „Jetzt ist das échappé dran“, könnte man dem Tanzpädagogen zum Beispiel ein Kapitel mit sprungbetonten und landungsbetonten Sprüngen vorschlagen. Welche Sprünge der Pädagoge dann auswählt, bliebe ihm persönlich überlassen. Aber ein solches Lehrwerk gibt es halt nicht, und man kann es auch nicht so nebenbei im Unterricht produzieren. Es gibt Konsens unter den Tanzpädagogen über eine Art Grundlagentechnik, auf deren Basis ein begabtes Kind den Weg zum Berufstänzer einschlagen kann, aber damit ist noch keine Laientanzpädagogik umrissen. Die systematische Erforschung der Basis, aufgrund derer sich jeder Laientänzer auch spezialisieren kann, so wie bei Orff, steht noch aus. Und ich würde mir wünschen, dass viele gemeinsam daran arbeiten.“
Was man nach drei Jahren Ausbildung im Körper mitnimmt
„Durch unsere lange Tradition hat sich Vieles herausgebildet, das wir im Ausbildungsunterricht anwenden, und durch dieses Wissen um die Möglichkeiten im Laienunterricht geben wir dem Ausbildungsschüler ein gutes Handwerkszeug mit. Es ist ein Raster, mehr können wir ja sowieso nicht schaffen, aber das Raster funktioniert. Darunter ist Einiges, auf das man einfach nicht verzichten kann. Wenn wir beispielsweise nicht gleich im ersten Jahr an der Wirbelsäule und der Beckenstellung arbeiten, kriegt man es nicht mehr richtig hin. Dieses anatomische Thema in Kombination mit den tänzerischen Qualitäten „Spannung und Entspannung“ ist für mich eine optimale Mischung. Ich habe die Erfahrung gemacht, wenn bestimmte tänzerische Bausteine fehlen, kann man den Rest auch vergessen. Hierzu gehört auch die Klarheit in Bezug auf parallele und en dehors-Positionen; erst in Zusammenhang mit der Stabilität der eigenen Mitte (Wirbelsäule und Becken) erobert man sich die Korrekturmöglichkeiten. So wird der angehende Lehrer im Schüler gleich miterzogen. Ein wichtiges Thema ist auch „Druck und Zug“, wenn ich das in der Ausbildung zu kurz kommen lasse, bekomme ich eine erhebliche Lücke in der tänzerischen Qualität.“
Gemeinsame Grenzen
„Wir dürfen nicht vergessen, dass wir in ein völlig neues Jahrtausend gehen, vor allem im Hinblick auf das zukünftige Europa. Wir sollten jetzt einen gemeinsamen Nenner in der Laientanzpädagogik finden, für die Ausbildung ebenso wie für die Anwendung im Laientanzbereich. Es geht auch darum, dass wir Formen finden, wie wir unsere Arbeit aus den verschiedenen europäischen Staaten gegenseitig anerkennen können. Der Nenner kann ja großzügig sein, aber es müssen ähnliche Kriterien berücksichtigt werden. Nichts sollte zentralistisch festgelegt werden, aber man müsste sicher sein können, dass bestimmte Grundlagen überein stimmen.“
PC AN CD
Wenn ich meinen Sohn, der ja auch Cello und Gitarre spielt, am Computer Musik komponieren sehe, muss ich sagen, ich kann ihn verstehen. Er kreiert in kürzester Zeit mehrere Stimmen, es ist natürlich keine tiefgehende Auseinandersetzung, aber es klingt spannend. In der virtuellen Welt gibt es jedoch nichts, was das Tanzen des eigenen Körpers ersetzen könnte. Gott sei Dank! Technologischer Fortschritt hat unseren Beruf jedoch auch revolutioniert. Die Chancen, die mit den CDs kamen, kann man kaum überschätzen. Wenn ich denke, wie meine Mutter gerungen hat mit diesem Tonband: Die Pianisten mussten ihr etwas darauf spielen, dann stimmte das Tempo nicht, oder das Tonband leierte, oder das Band war gerissen… was wir da alles ausgehalten haben. Und nun kann man sich spontan überall einhören. Trotzdem – die Arbeit mit Live-Musik ist bei uns ja im Vordergrund, das ist und bleibt eine Spezialität der Schule.“
Lieblingsfach
„Ich denke, dass unter allen Künsten der Tanz eine ganz besondere Rolle spielt, weil ihm hier die Improvisation wie nirgends sonst zur Verfügung steht. 30 Menschen können zur gleichen Zeit in einem Raum improvisieren, ohne Misston (in der Musik muss man sich zumindest auf eine Tonart einigen), sie können sich mit derselben Thematik beschäftigen und sich gegenseitig sehr viel geben. Das ist großartig, deswegen ist die Improvisation mein Lieblingsfach geworden, denn ich sehe, wie viel entstehen kann – selbst wenn das Bedauern dazu gehört, dass der Moment unwiederbringlich ist. (Der Profi muss natürlich lernen, so zu improvisieren, dass der Moment wiederbringlich im Sinne von nacherlebbar wird). Aber dieses Eintauchen in einen Kreativitätsprozess mit anderen zusammen, das wird genossen, das sehe ich deutlich. Nirgendwo sonst ist der Mut zur natürlichen Bewegung klarer zu erkennen: Der Körper sucht, oder der Körper findet, aber er zwingt sich niemals in die fünfte Position – es sei denn, genau das ist das Improvisationsthema.“
Choreologie heute
„Die Raumstrebung, also die Strebung des Körpers im Raum, ist für meine Mutter ein sehr wesentlicher Teil der tänzerischen Schulung gewesen. Ich glaube, dass bestimmte Techniken und teilkörperliche Ansätze eine andere Art von Konzentration hervorrufen, die nicht so stark räumlich ist, wie die Choreologie sie früher vorgab. Das Körperverständnis ist heute verändert. Man versucht, eine andere Art von Ökonomie in den Körper zu bringen. Die Arbeit mit der Schwerkraft, mit dem Gewicht usw. bewirkt oft schon eine große Sensibilisierung des Körpergefühls, und da kann nicht dauernd die Raumstrebung nun noch hinzukommen. Wenn ich zum Beispiel „Impulse“ arbeite, dann will ich schon, dass man Raumrichtungen versteht, aber oft identifizieren wir sie erst im Nachhinein. Ich kann die Schüler durch eine Skala schicken, dann sollen sie präzise in vorgegebene Richtungen streben; oder aber sie horchen sehr auf den Körper, wohin er will, und beschreiben erst nach dem Tanz, was räumlich passiert ist. Beides steht mir offen, die zweite Methode ist vielleicht heute geläufiger.“
Schluss ohne Abschluss
„Mein Leben lang habe ich mir einen anderen Leistungsbegriff gewünscht als den, der sich auf die Erfüllung von Aufgaben und Formen gründet. Die Leistung des Laien verstehe ich in seiner Hingabe und seiner Konzentration. Tanz als künstlerische Arbeit – das ist etwas, was gar nicht so selbstverständlich ist, wie es für jeden außerhalb der Tanzkunst Stehenden vielleicht klingt. Die Nachahmung vorgegebener Bewegung beherrscht den weitaus größten Teil des Tanzunterrichts. Wenn ich radikal sein dürfte, dann würde ich gerne herausfinden, ob man dadurch, dass man gar nichts vormacht, den Tänzer zu einem wirklichen Künstler erziehen könnte. Ob es funktioniert, wüsste ich natürlich erst nach einem ganzen Leben.“