Lola Rogge Nach-Denken von Dagmar Ellen Fischer
Lola Rogge – selten steht der Name so allein. Meist taucht er in einem Atemzug mit dem Wort Schule auf: Lola Rogge-Schule, der Bindestrich hält in der Schreibweise zusammen, was auch im Leben nicht zu trennen war, die Künstlerin und ihr Lebenswerk. Wenn im Jahre 2008 der 100. Geburtstag der Hamburgerin gefeiert wird, dann natürlich vor allem deshalb, weil die Schule überdauerte, weil die Gründerin in ihr weiterlebt. Doch obwohl Name und Institution über Jahrzehnte hinweg fast eins wurden, soll der Bindestrich hier einmal weg-fallen dürfen, soll Lola Rogge ohne und mit Schule gewürdigt werden.
Im Jahr 1908 geboren zu sein, bedeutete, zwei Weltkriege miterleben zu müssen. Hatte der Erste Weltkrieg eher indirekte Auswirkungen auf das Kind Lola, so zerstörte der Zweite Weltkrieg auch in Lola Rogges Leben nicht nur viele Hoffnungen und Pläne, sondern beinahe ihre Existenz. Ein solch runder Jahrestag gibt Anlass, einmal nicht privat und unbemerkt, sondern öffentlich in die Vergangenheit zurück zu schauen und zu fragen: Ist Lola Rogge zu dem gekommen, was sie sich erträumte? Hat sich ihre künstlerische Vision erfüllt?
Zwischen 1925 und 1927 wurde sie bei Rudolf von Laban und Albrecht Knust ausgebildet. Es war die große Zeit des freien Tanzes; überall in Deutschland schossen Schulen für Tanz, Gymnastik und Körperbildung aus dem Boden, nie zuvor (und vielleicht nie mehr seither) haben derart viele Menschen künstlerischen Tanz am eigenen Leib erfahren können, Tanz fand das Interesse der Massen – wie heute der Sport. Dass diese Bewegung durch den Krieg unterbrochen worden war, schien offensichtlich, doch dass auf der erworbenen Basis nach 1945 weiter gearbeitet werden konnte, davon war Lola Rogge überzeugt. Im Dezember 1945 spricht Lola Rogge in einem Interview mit Hans Theodor Flemming über ihre großen Hoffnungen, die sie an den modernen Tanz knüpfte:
„Ich glaube aber an einen guten Erfolg gerade dieser Arbeit. Nach den starken seelischen Erschütterungen der letzten Jahre wird der Tanz heftiger denn je zu einer ausdrucksbetonten Form kommen, und ich kann mit Freude feststellen, dass meine Tänzer und meine Chormitglieder, ja selbst unsere Kindergruppen ungeheuer bereit dafür sind.“
Die „ausdrucksbetonte Form“ des modernen, künstlerischen Tanzes hatte jedoch kaum noch eine Zukunft im Nachkriegsdeutschland. Tänzer, die in dieser stilisti-schen Richtung ausgebildet worden waren, bekamen zunehmend Schwierigkeiten an den Theatern. „Moderner Tanz“ reichte schon bald nicht mehr, viele standen vor der Notwendigkeit, sich den klassischen Tanz zu erobern. Ursula Bosselmann, eine von Lola Rogge ausgebildete Tänzerin, bringt es in einem Brief an ihre Lehrerin auf den Punkt, sie schreibt im Jahr 1948 über ihr Engagement aus Essen: „Ach, es ist so schön, von Dir und Deinen Plänen zu hören. Denn was sich so am Theater tut, ist doch recht bitter. Ein paar Tage vor Ostern habe ich mich in die Entscheidung gestürzt und bleibe also noch ein Jahr hier. Heut hat sich der neue Ballettmeister (Trapp aus Darmstadt) unsere Gruppe angesehen. Er arbeitet rein klassisch. Ich sprach ihn noch persönlich und sagte ihm auch, dass ich glücklich nur im modernen Tanz sein könnte, worauf er erwiderte, dass dieser sich eigentlich nur konzertant durchsetze, während innerhalb des Theaters die klassische Arbeit bliebe (mit ganz vereinzelten Ausnahmen an wenigen Theatern). Und es scheint wirklich so zu sein. Dieser Tanz aber in Opern und Operetten kann doch nicht ausfüllen. Und so werden die meisten Deiner Schülerinnen, liebe Lola – jedenfalls diejenigen, die die Ausbildung ernst genommen und einen künstlerischen Anspruch erhoben haben – in der Praxis sehr unglücklich sein.
Auf der anderen Seite sagen die Ballettmeister, dass die Schulen „am Theater vorbeierziehen“, die Tänzerinnen Beethoven, Händel, Chopin tanzen wollen, aber keinen einzigen Cancan-Schritt fertig bringen. Wie wunderschön Dein Requiem-Plan.“
Mit Requiem-Plan war hier das Tanzschauspiel „Vita Nostra“ gemeint, das 1950 zur Aufführung kam. Schon 1933 zeichnete sich mit dem „Thyll“ ab, dass Lola Rogge auf dem Weg zu ihrer eigenen Tanzform war. Mit dem Werk „Die Amazonen“ fand sie 1935 zur großen Form des Tanzschauspiels. Auch „Die Mädcheninsel“ setzte diese Arbeit konsequent fort. 1939 wurde das Werk kurz vor Kriegsausbruch uraufgeführt.
Dass Lola Rogge zeitgleich als Tanzleiterin am Deutschen Schauspielhaus choreografisch tätig war, passt in diesen Zusammenhang, hier kam es allerdings darauf an, „den Tanz organisch in den Ablauf der szenischen Handlung einzufügen.“ Die Choreografin beschreibt die Aufgabe im erwähnten Interview weiter: „Ich muss hierbei oftmals zu Gunsten des Ganzen auf eine besondere Wirkung des Tanzes verzichten. Aber die tänzerischen Elemente können tief in die gesamte Inszenierung eindringen.“
Sehr viel näher waren Lola Rogge natürlich die eigenen Choreographien. Labans Bewegungschöre, in denen Laien aus reiner Freude – heute würde man sagen, zum Zweck der Selbsterfahrung – tanzten, entwickelte sie weiter, indem sie die Chöre (Gesangschören vergleichbar) als künstlerisches Mittel im Tanzschauspiel einsetzte. Doch dieser Einsatz war begrenzt, daraus ergab sich für sie folgerichtig: „Je mehr ich mich dem Brennpunkt des szenischen Geschehens im Tanzschauspiel näherte, desto straffer und intensiver musste das künstlerische Mittel werden. Hier mussten der Berufstänzer, also der Solist und eine Tanzgruppe eingesetzt werden.“ Ihre „Tanzbühne Lola Rogge“ (1943 bis 1950 unter der Leitung von Hans Meyer-Rogge) gründete sie mit dieser Intention, und damit gab sie den von ihr ausgebildeten Schülerinnen eine Chance, erste Erfahrungen auf der Bühne zu sammeln.
Wahrscheinlich hat sie sich vorgestellt, alle drei bis vier Jahre ein neues Tanzschauspiel kreieren zu können. In dem Interview definiert sie: „Tanzschauspiele sind abendfüllende Werke, in denen eine nach besonderen dramaturgischen Gesetzen aufgebaute Handlung ohne Zuhilfenahme des Wortes, allein durch die Kraft der Gebärde, des Tanzes also, in Verbindung mit der Musik dargestellt wird.“
Der Traum von einer Laufbahn als Tanzschöpferin ging indes nicht in Erfüllung, und das hatte mehrere Gründe. Zum einen stand die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland unter den Zwängen, sich vor allem um die Ernährung und Sicherheit der eigenen Familie kümmern zu müssen. Das Ehepaar Meyer-Rogge hatte 1946 drei Kinder im Alter von zehn bis zwei Jahren. Die Schülerschar war deutlich geschrumpft und mit ihr die Einnahmen aus dem Unterricht. Erschwerend hinzu kam, dass der moderne Tanz als Bühnenkunst nur noch auf geringes Interesse stieß. Selbst hochangesehene Künstler unter den „Modernen“ wie Harald Kreutzberg und Dore Hoyer tanzten vor halbleeren Sälen. Die anspruchsvollen Themen der 20er und 30er Jahre wollte kaum noch jemand sehen.
Statt dessen standen Ablenkung und Unterhaltung hoch im Kurs. Das brachte einerseits dem Klassischen Tanz großen Zulauf – klare Linien und weniger irdische, romantische Themen kamen den Menschen nach den Erfahrungen im Dritten Reich gerade recht; andererseits erfreuten sich auch jene Gruppen großer Beliebtheit, die mit der sogenannten „Tingelei“ Geld verdienten. Auch die „Tanzbühne Lola Rogge“ reiste während des Krieges herum und setzte diese Tanz-Tourneen mit leichter Programm-Kost nach 1945 fort. So kam es, dass diese von Lola Rogge eher ungeliebten Gastspiele mit den am Geschmack der Zuschauer ausgerichteten Tänzen das Überleben im Krieg und in den ersten Jahren nach dem Krieg sicherten. Neben dieser Pflichtübung verlor Lola Rogge jedoch nicht ihre „Kür“ aus dem Blick: Einem persönlichen Eid aus dem Jahr 1944 verpflichtet (der da lautete, sie werde ein Requiem choreographieren, sofern ihre Familie und das ungeborene Kind den Wahnsinn des Krieges überlebten), arbeitete sie an „Vita Nostra“, ihrem bedeutendsten Werk. Über das 1950 im Deutschen Schauspielhaus uraufgeführte „Szenische Oratorium“ schrieb der Tanzkritiker Kurt Peters: „Denn was Kurt Jooss’ ‚Grüner Tisch’ in Reaktion und Bedeutung für den ersten Weltkrieg geworden ist, das ist ‚Vita Nostra’ unbedingt für den zweiten“ – und er bedauerte weiter, es sei „nicht zu fassen, dass die Ballettdirektionen der großen Opernhäuser bis heute daran vorbei gegangen sind, sich dieses Werkes und seiner Choreographin für eine Rekreation zu versichern.“
„Vita Nostra“ sollte in Berlin und im Ausland gezeigt werden, doch eine Reihe ungünstiger Umstände führten dazu, dass es zu keinen weiteren Aufführungen außerhalb Hamburgs kam. Bedenkend, dass diese Kraft raubenden Kreationen neben dem Schulbetrieb, zusätzlich zu den Touren der Tanzbühne und in Koordination mit einer – seit der Geburt des vierten Kindes im Jahr 1948 – sechsköpfigen Familie bewältigt werden mussten und neben Zeit eben auch für ein Privatunternehmen ungeheure Kosten verschlangen, wird offensichtlich, dass solch aufwändige Projekte nur selten möglich waren. Ob ein festes Engagement als Choreografin an einem Theater eine Alternative gewesen wäre? Eher nicht. Lola Rogge hätte sich viel zu sehr anpassen müssen, hätte unter dem damals schon oft erstickenden Produktionszwang gestanden. Die enormen Kosten wären natürlich gedeckt gewesen und hätten andere Dimensionen in Bezug auf Musik und Ausstattung erlaubt.
Ein Auftragswerk, das den finanziellen Zwängen einer freien Produktion wie „Vita Nostra“ eben nicht unterlag, erlaubte es der Choreografin erneut, sich ihrer künstlerischen Arbeit zu widmen: Der „Lübecker Totentanz“ entstand nach dem Gemälde-Fries der Kirche St. Marien und wurde dort zur Musik und einem Konzept von Walter Kraft 1956 uraufgeführt; 1963 wurde er zuletzt gezeigt.
Und die Lola Rogge-Schule?
In einem Brief wird deutlich, welchen Stellenwert sie in Lola Rogges Leben besaß, am 12.8.44 schrieb sie an ihren Mann:
„…ich bin sehr in Sorge wegen der Schule – ich kann Dir kaum sagen wie nah es mir gehen würde wenn die Schule tatsächlich geschlossen wird. Es ist noch nichts von der Kammer (Reichstheaterkammer, Anm.) da, bis heute aber im Radio ist von der Schliessung aller Nachwuchsausbildungsstätten von Film u. Theater gesprochen. (…) ich warte zwar ab und hoffe immer noch – habe aber sehr wenig Zuversicht (…). Für mich persönlich wäre es ja für ½ Jahr sogar sehr gut (Lola Rogge war im sechsten Monat schwanger, ihre Tochter Christiane wurde am 1.12.1944 geboren, Anm.) – ich wäre einer grossen Sorge enthoben, aber daran kann ich kaum denken, so leid tut es mir um meine und unsere Arbeit. (…) Die Aufbauarbeit, die in der Schule steckt ist für mich ein Stück von uns und alle grossen und kleinen Aufführungen sowie auch die jetzige Gruppe (Tanzgruppe, Anm.) sind Zweige dieser Arbeit. Mir ist, als nähme man uns den Mutterboden wenn die Schule aufhört zu sein. Selbst die Mühsal der Laienarbeit liebe ich so sehr, sie ist der Boden gewesen für alles Spätere. (…)“
Was Lola Rogge sich erträumte, ging nur zur Hälfte in Erfüllung. Die großen Tanzschauspiele in ihrem Sinne gehören der Vergangenheit an. Die Lola Rogge-Schule aber besteht bis heute und der „Mutterboden“ gewährt immer noch Nachwuchs.